Wer nur wenig Zeit hat, aber einen ersten Eindruck vom Nationalpark Kellerwald-Edersee gewinnen möchte, dem empfiehlt Ranger Joachim Reinhardt die Daudenberg-Route. Der mit einem Käfersymbol
gekennzeichnete Rundweg um den Hausberg von Bringhausen ist nur 4,7 km lang, er weist kaum Steigungen auf und ist auch gut geeignet für Familien und ältere Menschen.
Wir begleiten Joachim Reinhardt bei einer seiner Führungen. Treffpunkt ist der Parkplatz Kirchweg, gut einen Kilometer oberhalb des Dorfkerns. Der Ranger schätzt diese Runde besonders, weil sie
viele verschiedene Waldbilder bietet und wo man gute Einblicke in die Wildnisentwicklung gewinnen kann.
Wie in allen deutschen Nationalparks folgt auch der Kellerwald dem Motto "Natur Natur sein lassen", aber auf fünf Prozent der Fläche erlauben die Richtlinien gepflegte Flächen. Dazu gehören die
schönen Wiesentäler. Viele Grünlandtypen im Nationalpark stehen auf der Roten Liste und dienen somit der Artenvielfalt. Unsere ersten Schritte in den Nationalpark führen am Rand einer Magerwiese
vorbei, die durch die Heidschnucken-Herde von Georg Schutte (Frankenau) extensiv beweidet wird. Wie zur Bestätigung der Bedeutung solcher Flächen entdecken wir auf einer Schwarzdornhecke ein
Neuntöter-Männchen, eine Vogelart, die für ihren Lebensraum Wiesen und Hecken benötigt.
Bald aber tauchen wir in den Wald ein und sind in wenigen Minuten am
"Christianseck", einem herrlichen Aussichtspunkt auf Berge und Täler. Im 17. Jahrhundert stand hier ein kleines Jagdschloss. Am "Hohen Stoß" bietet sich eine gute Vergleichsmöglichkeit zur
Waldentwicklung, die der Ranger erklärt: Links Käferfichten, die vor drei Jahren trocken wurden, rechts ein Bereich, der vor etwa zehn Jahren ähnlich aussah. Jetzt stehen dort aber nur noch
einige Fichten-Stümpfe und es hat eine deutliche Naturwald-Entwicklung eingesetzt mit Birken als Pionierart, aber auch schon ersten Buchen.
Auf unserem Weg, der bis zu einer Wegekreuzung dem Urwaldsteig folgt, hören wir in tief beasteten Buchen den Gesang von Waldlaubsängern. Diese gehören zu den Zielarten, deren Bestand der
Ornithologe Joachim Reinhardt auf der Daudenberg-Route in regelmäßigen Abstanden erfasst. "Waldlaubsänger sind für den Nationalpark eine wertgebende Art, die Naturnähe anzeigt", erklärt er.
An einer alten Buche mit Zunderschwämmen thematisiert Reinhardt den natürlichen Prozess von "Werden und Vergehen". Neben dem absterbenden Baum warten schon junge Buchen auf ihre Chance, den
entstehenden Lichteinfall für ihr Wachstum zu nutzen.
Die Blockhalde, die wir am oberen Hangweg passieren, ist die eindrucksvollste ihrer Art im Nationalpark. Sie bietet ein Zeitfenster in die waldfreie Nacheiszeit, denn diesen extremen Standort
konnte im Laufe der letzten 10.000 Jahre kein Wald erobern. Die Entstehung einer solchen Halde kann man am Westhang des Daudenbergs gut studieren: In die Spalten des Felsen aus Grauwacke drang
immer wieder Wasser ein, Frost und Hitze sprengten den Felsen und so bildete sich in Jahrtausenden die Geröllhalde.
Etwa 300 Meter nach der Blockhalde gelangen wir zu einem Buchenwald mit einem Teppich aus hellgrünem Perlgras, der einen hohen Anteil an Totholz aufweist. Hier fordert uns Reinhardt auf:
"Bewerten Sie mal diesen Wald!". Wir schauen auf die unterschiedlichen Baumgestalten, auf stehendes und liegendes Totholz mit vielfältigen Strukturen: Spechthöhlen, Spalten, abgeplatzte Rinde
oder Baumpilze. Lebensraum für Vögel, Insekten und Fledermäuse. Joachim Reinhardt fasst das Ergebnis unserer Betrachtung so zusammen: "Im Totholz tobt das Leben!"
Vorbei an einer Köhlerplatte, einer Wildschweinsuhle und alten Eichen gelangen wir schließlich nach zweieinhalb Stunden an den Waldrand oberhalb von Bringhausen. Hier am "Fünfseenblick"
bietet sich ein eindrucksvoller Blick auf Schloss Waldeck und das Erweiterungsgebiet des Nationalparks.
Wolfgang Lübcke